Agricola: Der Vater der Ökologie

Agricola: Der Vater der Ökologie
Agricola: Der Vater der Ökologie
 
Ungewöhnliche Zeiten bringen mitunter ungewöhnliche Menschen hervor. Wohl selten traf dies mehr zu als bei Georgius Agricola (1494—1555), jenem humanistischen Naturforscher und deutschen Renaissancegelehrten, der sich nicht nur als Arzt, Pharmazeut und Mineraloge, sondern auch als Pädagoge, Philologe und Theologe sowie als Politiker und Historiker einen Namen machte, dessen 1556 posthum erschienenes Hauptwerk »De re metallica« ihn zum allseits anerkannten Begründer der Wissenschaft vom Bergbau und Hüttenwesen machte und dessen frühe Überlegungen zum Verhältnis von Mensch, Technik und Umwelt ihn für viele aus heutiger Sicht zum ersten Ökologen überhaupt werden ließen.
 
So vielgestaltig wie Leben und Werk dieses Mannes waren auch die Zeiten, in denen er lebte und wirkte. Politische, wirtschaftliche und soziale Wandlungen großen Ausmaßes gingen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und in Europa zu Lebzeiten Agricolas einher mit tief greifenden Veränderungen im gesamten abendländischen Weltbild, an deren Ende die Ausformung der modernen Naturwissenschaften stehen sollte.
 
 Das Reich und Europa im Zeitalter Agricolas
 
Die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 durch die Türken hatte nicht nur zu einer lang andauernden politisch-militärischen Bedrohung des christlichen Europas geführt, sondern mit der Vertreibung der byzantinischen Gelehrten, die das wissenschaftliche und kulturelle Erbe der Antike bewahrten, auch zur Verstärkung der geistig-kulturellen Bewegung des Renaissance-Humanismus beigetragen.
 
Die am Ende des 15. Jahrhunderts beginnende Entdeckung und Eroberung Amerikas leitete nicht nur die koloniale Expansion Europas ein, sondern führte im Zuge der Entdeckungsfahrten zu völlig neuen Erkenntnissen über Grenzen und Aufbau der Welt. Schifffahrt und Handel profitierten davon ebenso wie die geografischen Kenntnisse, die Tier- und Pflanzenkunde bzw. die Naturforschung insgesamt, für deren allmählichen Wandel zur modernen Naturwissenschaft die Antikenrezeption des Humanismus und die Entdeckerfreude der Renaissance wesentliche Grundlagen schufen.
 
Während sich ein Teil Europas der Neuen Welt zuwandte, suchten im Heiligen Römischen Reich die Fürsten ihre Territorien gegen Kaiser und Kirche zu selbstständigen Staaten auszubauen. In den aufstrebenden Städten des Reiches entwickelte sich zur gleichen Zeit eine Kaufmanns- und Bürgerschicht, die ihre vor allem im Fernhandel erzielten Gewinne in profitträchtige Unternehmungen wie den Bergbau oder das Manufaktur- und Verlagswesen investierte. Beide Entwicklungen verstärkten das Bedürfnis nach sachkundiger Verwaltung, nach Information und nach Bildung, die durch die zunehmende Intensivierung des Geldverkehrs und des Rechnungswesens sowie die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern zusätzliche Impulse erfuhren.
 
Der Buchdruck begünstigte auch die Verbreitung der Thesen Martin Luthers (1517), die zur Reformation und damit letztlich zur religiösen Spaltung Deutschlands führten. Die sich zuspitzenden konfessionellen Gegensätze sowie die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Territorialfürsten eskalierten schließlich im Schmalkaldischen Krieg und konnten auch durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 nur vorübergehend überbrückt werden.
 
In enger Verbindung mit der Reformation und der Ausbildung von Territorialstaaten erschütterten in dieser Zeit zusätzlich die sozialrevolutionären Ideen eines Thomas Müntzer, die Bauernkriege und wiederholte Pestepidemien zutiefst das gesamte gesellschaftliche Gefüge im Reich. Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts erwies sich damit als eine Zeit der Unruhe und Unsicherheit, aber auch des Aufbruchs und Neubeginns. Leben und Werk Georgius Agricolas sollten davon auf vielfache Art und Weise geprägt werden.
 
 Kindheit und Ausbildung
 
Georgius Agricola wurde unter dem Namen Georg Pawer (Bauer) am 24. März 1494 als zweites von sieben Kindern in Glauchau, unweit von Zwickau, in Sachsen geboren. Über Georgs Familie, Kindheit und Ausbildung wissen wir nur wenig. Sein Vater, Gregor Pawer, war vermutlich als Handwerker im Tuchmacher- und Färbergewerbe tätig. Er gehörte noch zu jener Hand voll Glauchauer Bürger, die ihrem Grundherrn, dem Grafen von Schönburg, zu Frondiensten verpflichtet waren. Das dadurch begründete besondere Verhältnis des Vaters zum Landesherrn sicherte Georg und seinen beiden Brüdern allerdings einen für Handwerkersöhne jener Zeit ungewöhnlichen Ausbildungsweg. Sie besuchten sowohl die Lateinschule ihrer Heimatstadt als auch die Landesuniversität in Leipzig und kamen damit in den Genuss einer Bildung, die sie für eine gehobene berufliche Laufbahn im Verwaltungs-, Kirchen- oder Lehramt prädestinierte. Georgs Ausbildung und Erziehung erfolgten vermutlich im engen Kontakt mit den Kindern seines Landesherrn, was dazu führte, dass er schon als junger Mann ein bemerkenswert sicheres Auftreten gegenüber Gelehrten und Adligen erkennen ließ.
 
Dieses Auftreten und seine gute Ausbildung, vor allem in den klassischen Sprachen Latein und Griechisch, vermittelten Georg während seines Studiums an der »Artisten«-Fakultät der Leipziger Universität bald enge Kontakte zu führenden Gelehrten wie Richard Crocus und Petrus Mosellanus, die ihn mit dem humanistischen Gedankengut des Erasmus von Rotterdam bekannt machten und damit seinen weiteren Lebensweg entscheidend beeinflussten. Eine besondere Wertschätzung der antiken Sprachen, Literatur und Wissenschaft, die Abneigung gegen das erstarrte scholastische Erbe des traditionellen Bildungswesens, das Eintreten für eine diesseitsorientierte, der Menschenwürde und freien Persönlichkeitsentfaltung verpflichtete Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft sowie eine allgemeine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen seiner Zeit wurden so zur wesentlichen Grundlage des Lebens und der Arbeit von Georg Pawer.
 
 Lehrer in Leipzig und Zwickau
 
Nach nur anderthalb Jahren beendete Georg sein Studium mit dem Examen zum »baccalaureus artium«. Er änderte zugleich, einer Sitte seiner Zeit folgend, seinen Namen in die lateinische Version Georgius Agricola, unter der er später in die Geschichte eingehen sollte.
 
Das Baccalaureus-Examen berechtigte Agricola sowohl zur Aufnahme eines Fachstudiums an einer der drei höheren Fakultäten der Universität als auch zur Übernahme eines Lehrerpostens an einer der Lateinschulen des Landes. Vermutlich aus finanziellen Gründen entschied sich Agricola für Letzteres, da er schon bald als »Lehrer in der griechischen Literatur«, vermutlich zur Unterstützung der Vorlesungen von Crocus, an der Leipziger Universität in Erscheinung trat. Eine für seine Zeit typische Karriere als Schulmeister begann sich damit für den jungen Baccalaureus abzuzeichnen. Zu Beginn des Jahres 1518 folgte Agricola einem Ruf als »Supremus«, das heißt als stellvertretender Schulmeister, an die Lateinschule in Zwickau, wo bereits sein Jugendfreund Stephan Roth als Schulmeister wirkte. Agricolas Unterricht in Zwickau war bald so erfolgreich, dass der Rat der Stadt nur ein Jahr später beschloss, eine eigene Griechischschule zu eröffnen und Agricola zu deren Schulmeister zu berufen.
 
Als Pädagoge gab sich Agricola in Zwickau durch die Einführung neuer Lehr- und Lernprinzipien erstmals deutlich als Humanist und Anhänger des Erasmus von Rotterdam zu erkennen. In dem von ihm 1520 in lateinischer Sprache herausgegebenen Lehrbuch »Büchlein vom einfachen grammatischen Anfangsunterricht« sprach sich Agricola nicht nur gegen die damals übliche »Prügelpädagogik« aus, sondern ging mit Übungsbeispielen, Fettdruck der besonders wichtigen Textstellen, ergänzenden Randbemerkungen für Schüler und Lehrer sowie Platz für Notizen der Schüler auch ganz neue didaktische Wege.
 
Als im November 1520 in Zwickau die Latein- und die Griechischschule zusammengelegt wurden, erarbeitete Agricola den Lehrplan der neuen Schule. Den älteren Schülern sollten fortan in neuen »weltlichen« Lehrfächern auch Kenntnisse über Ackerbau, Handel, Rechnen, Bauwesen, Handwerk, Kriegsführung und Vermessungskunde vermittelt werden, die sie in ihrem späteren beruflichen Leben praktisch verwenden konnten.
 
Mit einer derartigen Schulreform eilte Agricola seiner Zeit weit voraus und stieß in der Zwickauer Bürgerschaft nicht nur auf Gegenliebe. Im Frühjahr 1521 drohte die Schulfrage geradezu zum Zündstoff des Aufruhrs zu werden, zumal die Situation in der Stadt durch den Streit um die Reformation sowie die sozialrevolutionären Ideen Thomas Müntzers ohnehin zum Zerreißen gespannt war und sich wiederholt in gewaltsamen Ausschreitungen entlud. Erst die Vertreibung Müntzers und die Einführung der Reformation (1523) stellten die Ordnung wieder her. Agricola, der als überzeugter Katholik die Reformation persönlich zwar ablehnte, generell aber in Glaubensfragen einen Standpunkt der Toleranz vertrat, hatte zu diesem Zeitpunkt Zwickau allerdings schon verlassen.
 
 Philologische und medizinische Fachstudien in Sachsen und Italien
 
Die Stadtväter von Zwickau hatten Agricola als Anerkennung für seine erfolgreiche Lehrtätigkeit bereits 1520 die Zinsen eines kirchlichen Lehens verliehen und diese Verleihung im August 1522 für drei weitere Jahre erneuert. Die Einnahmen aus dem Lehen ermöglichten es Agricola nun, dem unruhigen Zwickau den Rücken zu kehren, um sein 1517 unterbrochenes Studium wieder aufzunehmen. Dazu wandte er sich zunächst nach Leipzig, wo er offenbar erneut bei Petrus Mosellanus griechische und lateinische Klassiker studierte.
 
In dieser Zeit wohnte Agricola im Hause des bekannten Arztes Heinrich Stromer von Auerbach, wo er sich auch als Teilnehmer der dort regelmäßig abgehaltenen berühmten religiösen Gesprächsrunden nachweisen lässt. Durch von Auerbach sowie durch den Kontakt zu dem Leipziger Medizinprofessor Ulrich Rülein von Calw, dem Autor des ersten deutschsprachigen montanwissenschaftlichen Lehrbuchs »Ein nützlich Bergbüchlein« (1500) könnte Agricola auf den Gedanken gebracht worden sein, sein weiteres Studium der Medizin zu widmen.
 
Die traditionellen Vorstellungen verhaftete Leipziger Universität bot für ein solches Vorhaben allerdings keine guten Voraussetzungen. Wer neben der damals im Medizinstudium üblichen philologischen Interpretation und Deutung der medizinischen Klassiker und »Autoritäten« wie Galen, Hippokrates und Avicenna auch etwas über praktische Heilkunst erfahren wollte, musste an eine der Universitäten in Frankreich oder Italien gehen. Agricola entschied sich für Letzteres und traf im Herbst 1522 in Bologna ein.
 
Dort absolvierte Agricola zunächst ein gründliches Studium der umfangreichen medizinischen Sekundärliteratur und vervollständigte seine Sprachkenntnisse in Latein, Griechisch und Hebräisch, wobei er sich wohl auch Grundkenntnisse in der arabischen Sprache aneignete. Im Frühjahr 1524 wechselte Agricola nach Venedig, um dort praktische Medizin zu lernen und im berühmten Verlagshaus des Aldus Manutius an der Herausgabe der medizinischen Gesamtwerke des Galen und des Hippokrates mitzuwirken.
 
Agricola blieb bis 1526 in Italien und besuchte in dieser Zeit u. a. Neapel, wo er den Vesuv bestieg, sowie mindestens zweimal Rom. Auf seinen Reisen sammelte er eine Unmenge von Material nicht nur zur Medizin, sondern auch zur Natur des Landes, über Handel, Maße und Gewichte, über historische Ereignisse, Baudenkmäler, die Herstellung von Farben und Glas, die Gehälter der Professoren sowie das gesamte kulturelle und künstlerische Leben Italiens, das später auf die eine oder andere Art Eingang in seine wissenschaftlichen Arbeiten finden sollte. In die Heimat kehrte Agricola im Herbst 1526 als Doktor der Medizin zurück, ohne dass bekannt ist, an welcher italienischen Universität er diesen Titel erwarb.
 
Schon bald nach seiner Rückkehr nach Zwickau heiratete Agricola in Chemnitz die Witwe Anna Meyner, die neben einem Haus auch einiges Vermögen in die Ehe einbrachte. Dadurch war er von den dringendsten Existenzsorgen befreit und konnte darangehen, sich einen geeigneten Ort für die Durchführung jener wissenschaftlichen Studien zu suchen, für die in Italien sein besonderes Interesse erwacht war: der Verbindung von Medizin und Mineralogie, die ihn schließlich in enge Berührung mit Bergbau und Hüttenwesen bringen sollte.
 
 Arzt und Apotheker in St. Joachimsthal
 
Von Chemnitz aus bemühte sich Agricola um eine Anstellung als Stadtarzt in St. Joachimsthal, dem zu dieser Zeit aufstrebenden Zentrum des Silberbergbaus im böhmischen Erzgebirge. Agricola faszinierte aus ärztlicher Sicht vor allem die Vielfalt der dort geförderten Minerale und Gesteine, da er diese zur Herstellung jener Medikamente zu verwenden gedachte, die er bei seinem Studium der antiken medizinischen Schriften in Italien wieder entdeckt hatte. Aus diesem Grunde wollte er sich näher mit dem Bergbau und Hüttenwesen sowie mit den antiken Maßen und Gewichten beschäftigen, da deren Kenntnis für die Identifizierung der in den antiken Texten beschriebenen Mineralien sowie die genaue Zusammensetzung und Dosierung der Medikamente unentbehrlich war. Als in St. Joachimsthal die Stadtarzt- und Apothekerstelle frei wurde, griff Agricola daher sofort zu und zog im Herbst 1527 in die etwa 14 000 Einwohner zählende Bergbaumetropole.
 
Seine medizinischen Aufgaben ließen Agricola in St. Joachimsthal ausreichend Zeit, sich grundlegende bergmännische und hüttentechnische Kenntnisse anzueignen. Wie schon in Italien beschränkte sich Agricola nicht nur auf die sorgfältige und umfassende Auswertung antiker Texte zum Bergbau, sondern er sammelte alle ihm zugänglichen Informationen über dessen Praxis, über Minerale und Gesteine, ihr Vorkommen, ihre Lagerungsverhältnisse, ihren Abbau und ihre Verhüttung. Er fuhr selbst in die Schächte und Stollen ein, besuchte die Aufbereitungs- und Hüttenanlagen und sammelte eigene Beobachtungsdaten, die er in thematisch geordneten Manuskripten für eine spätere Veröffentlichung zusammenfasste.
 
In der ihm eigenen offenen Art gewann Agricola schnell Freunde unter den Fachleuten vor Ort, so u. a. den Hüttenschreiber Lorenz Wermann, dem er in seiner ersten veröffentlichten Studie über den Bergbau, in dem 1530 in lateinischer Sprache in Basel erschienenen »Bermannus, oder ein Gespräch vom Bergbau«, ein literarisches Denkmal setzte. Der »Bermannus« fand nicht nur den Beifall Erasmus von Rotterdams und anderer Zeitgenossen, sondern fasziniert bis heute durch die in ihm gewählte Form des zugleich unterhaltsamen und lehrreichen, bisweilen auch ironisch-komischen Dialogs zwischen zwei Besuchern und einem Fachmann des St. Joachimsthaler Reviers. Neu waren am »Bermannus« allerdings nicht so sehr die Form des Dialogs und sein Gegenstand, als vielmehr der sachkundig und zugleich verständlich dargelegte Inhalt unter vergleichend-kritischer Einbeziehung der Auffassung antiker wie zeitgenössischer Gelehrter zu den sozialen und wirtschaftlichen Bezügen des Themas. Durch die Wahl der lateinischen Sprache wandte der »Bermannus« sich zudem an die gebildeten Kreise des Adels, der Kirche, der Gelehrten, der Verwaltungs- und Bergbeamten, der Ärzte und Lehrer und verschaffte damit diesen Kreisen erstmals einen Zugang zu den wirtschaftlich wie technisch gleichermaßen bedeutsamen Problemen des Bergbaus. Der »Bermannus« wurde ein großer Erfolg, und Agricola galt von nun an nicht nur als versierter Arzt, sondern auch als ausgesprochener Bergbauexperte.
 
In St. Joachimsthal beschäftigte Agricola sich jedoch nicht allein mit Bergbau und Hüttenwesen. Eingehend setzte er sich auch mit den Problemen von Maßen, Münzen und Gewichten auseinander, für deren Bestimmung und Umrechnung er sowohl aus pharmazeutisch-medizinischen Gründen wie auch aufgrund der allgemeinen Geld- und Münzprobleme seiner Zeit eine solide Basis zu legen suchte. Publiziert hat er die Ergebnisse dieser Arbeiten sowie seiner montanwissenschaftlichen Studien allerdings erst, nachdem er St. Joachimsthal bereits verlassen hatte.
 
 Stadtarzt, Gelehrter und Bürgermeister in Chemnitz
 
Warum und wann genau Agricola von St. Joachimsthal weggezogen ist, ist nicht bekannt. Seit dem Herbst 1531 wohnte er jedenfalls in Chemnitz und übte dort, wie schon in St. Joachimsthal, das Amt des Stadtarztes aus. Auf die Einkünfte als Arzt war Agricola freilich nicht angewiesen, da er noch in St. Joachimsthal Bergwerksanteile (Kuxe) erworben hatte, die ihn bald zu einem der reichsten Männer in Chemnitz werden ließen.
 
In Chemnitz fand Agricola trotz seiner Verpflichtungen als Arzt und bald auch als Bürgermeister endlich die Zeit, sich um die Publikation seiner Forschungsergebnisse zu kümmern. Im Jahr 1533 erschien zunächst in lateinischer Sprache das bereits in St. Joachimsthal konzipierte Buch »Über Maße und Gewichte der Römer und Griechen«, mit dem Agricola seinen Ruf als Gelehrter begründete. 13 Jahre später folgte 1546 als weiteres umfangreiches Werk ein wissenschaftlicher Sammelband, in dem Agricola in 21 Büchern geologisch-mineralogische Themen behandelte und u. a. eine Theorie der Entstehung der Erzgänge, eine Vulkan- und Erdbebentheorie sowie eine Theorie der Thermalwässer vorstellte. 1549 erschien Agricolas Werk »Über die Lebewesen unter Tage« und im Jahr darauf ein weiterer Sammelband zum Thema »Maße und Gewichte«. Zur selben Zeit vollendete Agricola den Textteil seines Hauptwerks »Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen«, das aufgrund der zahlreichen dafür vorgesehenen Abbildungen erst 1556, ein Jahr nach Agricolas Tod, in Basel unter dem lateinischen Titel »De re metallica libri XII« erscheinen konnte.
 
Dieses Werk, das 1557 auch in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, bildete die Summe seiner langjährigen Arbeiten und Erfahrungen auf dem Gebiet des Bergbaus und Hüttenwesens. Mit ihm schuf er für die folgenden 200 Jahre die Grundlage der Bergbaukunde, wofür vor allem die Konzeption dieses breit angelegten Werks verantwortlich war. Die gesamte Gliederung von »De re metallica« orientierte sich am bergbaulichen und hüttentechnischen Produktionsprozess, der in zwölf Abschnitten, einschließlich spezieller Verfahren zur Gewinnung von Silber, Gold, Salz, Soda, Alaun, Vitriol, Schwefel, Bitumen und Glas, umfassend beschrieben wurde.
 
In »De re metallica« stellte Agricola den Bergbau erstmals als rational gegliederten Arbeitsprozess dar, in dem nicht Geheimniskrämerei, sondern der planende Mensch den Kern der Arbeitsorganisation bildete. Seine Darstellung besticht durch eine Verbindung von solidem überliefertem Wissen, realistischer Naturbeobachtung und einem sicheren Blick für die Bedeutung der technischen Geräte, Maschinen und Verfahren. Besonders eindrucksvoll fiel das sechste Buch mit seiner Beschreibung der zahlreichen Maschinen und Apparaturen des Bergbaus aus. Die in ihm wiedergegebenen aufwändigen Holzschnitte von Pferdegöpeln, Kranen, Pochwerken, Wasserrädern und anderen Bergwerksmaschinen sorgten für eine bis heute anhaltende Faszination dieses großen Werks. »De re metallica« erlebte von 1556 bis heute nachweislich nicht weniger als 36 Ausgaben in den Sprachen Latein, Deutsch, Italienisch, Englisch, Tschechisch, Russisch, Japanisch, Spanisch, Ungarisch und Französisch. Selbst eine chinesische Ausgabe soll es 1664 gegeben haben. Wesentlich »De re metallica« ist es zu verdanken, dass wir in dem Arzt Georgius Agricola heute den Begründer der Montanwissenschaften sehen.
 
Dass Agricolas Interessen und Fähigkeiten jedoch weit über das Berg- und Hüttenwesen, die Mineralogie oder die Medizin hinausgingen, zeigen einige weitere von ihm erhaltene Schriften, z. B. der noch aus seiner Joachimsthaler Zeit stammende »Türkenbrief« (1531), in dem er die Fürsten Europas vergeblich zur Einheit im Kampf gegen die Türken aufforderte, oder auch seine beiden genealogischen Arbeiten zur Geschichte des sächsischen Herrscherhauses (1544/1555), die sein historisch-politisches Engagement bezeugen.
 
Als Politiker wurde Agricola im letzten Jahrzehnt seines Lebens in ganz besonderer Weise gefordert. Auf Befehl seines Landesherrn, des sächsischen Kurfürsten, musste er insgesamt viermal das Bürgermeisteramt von Chemnitz übernehmen und wurde dadurch in die großen politischen Ereignisse seiner Zeit hineingezogen. Agricola vertrat seine Heimatstadt mehrfach auf Landtagen und musste seinen Landesherrn auf den Feldzügen des Schmalkaldischen Krieges begleiten. Für Sachsen und die Stadt Chemnitz erwies er sich dabei als umsichtiger Diplomat und Politiker, der vor allem für einen vernünftigen Ausgleich der Interessen- und Glaubensgegensätze eintrat. Als überzeugter Katholik in einer protestantischen Umgebung hatte er es in einer Zeit sich zuspitzender konfessioneller Gegensätze mit dieser Einstellung nicht leicht. Dass Agricola, nachdem er am 21. November 1555 an einem »Wechselfieber« verstorben war, auf Befehl des sächsischen Kurfürsten August nicht im evangelischen Chemnitz, sondern nur im katholischen Zeitz beigesetzt werden konnte, ließ für die Zukunft des kurz vor Agricolas Tod geschlossenen Augsburger Religionsfriedens Schlimmes ahnen.
 
Mit dem Buch »De peste« (Über die Pest) aus dem Jahre 1554 ist uns nur eine einzige rein medizinische Schrift des Arztes Georgius Agricola erhalten geblieben. In ihr zeigt er sich in seinem Denken als ein Mensch zwischen zwei Epochen. »Einerseits ist er rückwärts gewandt in seiner unbestrittenen Anerkennung der Autorität der antiken Lehrer, andererseits ist er einer der Ersten, der die neue Legitimation, die Berufung auf den eigenen Augenschein, ernst nimmt.« Diese Feststellung des Medizinhistorikers Rolf Winau im Hinblick auf den Arzt Agricola gilt im übertragenen Sinn für das gesamte Leben und Werk Agricolas. Fest auf dem Boden einer großen Tradition stehend, überwand der große Humanist und Gelehrte durch seine der Gegenwart verpflichtete wissenschaftliche Arbeit jedoch gerade diese Tradition und wurde so zu einem der Wegbereiter der Aufklärung und der Neuzeit in Deutschland.
 
Helmuth Albrecht
 
 
Engewald, Gisela-Ruth: Georgius Agricola Stuttgart 21994.
 
Georgius Agricola — Bergwelten 1494-1994, herausgegeben von Ernsting, Bernd. Ausstellungskatalog Schloßbergmuseum Chemnitz u. a. Essen 1994.
 
Georgius Agricola — 500 Jahre. Wissenschaftliche Konferenz vom 25.-27. März 1994 in Chemnitz, herausgeben von Naumann, Friedrich. Basel 1994.
 
Georgius Agricola u. seine Familie. Dokumente, bearbeitet von Viertel, Gabriele, u. a. Chemnitz 1994.
 Prescher, Hans und Wagenbreth, Otfried: Georgius Agricola — seine Zeit und ihre Spuren Leipzig 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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